23.2.2015
Durch den Austausch mit einer Teilnehmerin über Ärger und Aggression bin ich ins Nachdenken gekommen und wollte in diesem Punkt für mich noch etwas mehr Klarheit gewinnen. Heute Nacht kam mir dann eine ganz einfache Darstellung, wie ich es sehe, wie ich damit umgehe, wie ich es lebe - und wie ich es jetzt nach dieser Erkenntnis noch klarer leben kann.
Hier einmal eine Darstellung, wie die meisten von uns es kennen:
In irgendeinem Zusammenhang erleben wir eine schmerzvolle Situation. Sei es, dass wir von einem Menschen unabsichtlich oder absichtlich verletzt werden, sei es, dass wir etwas verlieren, sei es, dass wir uns selbst verletzen ... wie auch immer. Entscheidend ist es, dass diese Situation bei uns Schmerz erzeugt. Dabei spielt es keine Rolle, wodurch der Schmerz erzeugt wird.
Wenn wir uns Kinder anschauen, dann ist die natürliche spontane Reaktion ein Weinen und/oder Schreien. Darf das Kind so lange über die Schmerzsituation weinen, wie es möchte, dann beenden sich die Tränen irgendwann wie von selbst nach einer Weile (vorausgesetzt die Schmerzsituation ist vorbei - wenn sie aber weiter besteht, weint und schreit das Kind natürlich auch weiter ...). Anschließend befindet sich das Kind noch ein bisschen in einer Trance oder es schläft sogar ein. Ist diese Phase vorbei, dann kann das Kind wieder fröhlich weiterspielen.
Bei uns Erwachsenen ist die Phase der Schmerzverarbeitung aus dem Blick geraten (ich habe auch eine These, warum - siehe weiter unten). Wir haben uns daran gewöhnt, auf Schmerz sofort mit Abwehr zu reagieren. Fällt also die natürliche Schmerzverarbeitung weg, dann speichert sich in unserem Gehirn diese erlebte Schmerzsituation im Zusammenhang mit unserer Befürchtung, dass sich diese Situation wiederholen könnte. Wir speichern diese Situation zusammen mit Angst, mit Stressgefühlen, mit permanenter Vorsicht etc. Dieser Zustand in uns führt zu Abwehrverhalten, zu abwertender Wertung, zu Ärger, zu Kämpfen, Rechtfertigungsdrängen, Verteidigungsbedürfnissen und im Extremfall sogar zu Hassgefühlen. Das wiederum wirkt als Schmerz erzeugendes Verhalten.
Hier wächst der Krieg in uns. Hier ist die Gewaltspirale in Bewegung.
Wenn wir Frieden wollen, dann behaupte ich, dass der einzig tief wirkende und "wirklich" Frieden bringende Schritt ist, die Schmerzverarbeitung, die wir von Kindern oder aus unserer Kindheit kennen, wieder in unser Leben zu integrieren.
Das würde so aussehen:
Wenn wir also eine Schmerz erlösende Situation nach unserem Schmerzerlebnis einbauen, dann konzentrieren wir uns nach einem Schmerzerlebnis auf die Verarbeitung oder auf die Suche nach einer Schmerz erlösenden Situation, in der wir den erlebten Schmerz nachträglich verarbeiten können. Diese Verarbeitung bedeutet aber nicht, dass wir uns anschließend wieder für die Schmerz erzeugende Situation öffnen sollten. Nein - wir sammeln trotzdem unsere Erfahrung und können letztendlich in Zukunft gezielt auch den Schmerz vermeiden (so gut es möglich ist). Allerdings nicht mit einer Abwehr verbunden, sondern mit Klarheit und Offenheit und Freundlichkeit. Der emotionale Kampf, die emotionale Abwehr gegen den Schmerz verschwindet, wenn wir einen Schmerz komplett verarbeiten. Und wenn wir einen Schmerz vollständig verarbeitet haben, können wir in diesem Fall in uns selbst einen Frieden finden.
Mit diesem Gefühl des inneren Friedens sind wir in der Lage, sowohl für uns selbst als auch für andere Menschen den Rahmen für Schmerz erlösende Situationen zu bieten. Wir haben Verständnis für andere, dass sie gerade unter einer Schmerz erzeugenden Situation leiden müssen/mussten und konzentrieren uns auf die Schmerz erlösende Situation - ohne dabei die Schmerz erzeugende Situation zu bekämpfen. Wir wehren uns also nicht gegen anderen, sondern wir schauen: Was hilft jetzt gerade, dass der eben erlebte Schmerz gut verarbeitet werden kann? Was brauchen wir selbst - oder was braucht der andere? Dabei kann es auch möglich sein, dass die klare Grenzsetzung gegenüber einer Schmerz erzeugenden Situation genau das ist, was dem anderen hilft. Wir setzen eine klare Grenze, unser Gegenüber darf miterleben, dass und wie man eine klare Grenze setzen kann, und kann diesbezüglich dazulernen und sich selbst erlauben, gegenüber einer Schmerz erzeugenden Situation eine klare Grenze zu setzen. Diese neue Grenzsetzung kann eine Schmerz erlösende Situation darstellen und dabei helfen, den erlebten Schmerz nun nachträglich zu verarbeiten.
Einige Menschen brechen berührt in Tränen aus, wenn sie erfahren, dass man gegenüber einer Schmerz erzeugenden Situation auch Grenzen setzen "darf". Diese emotionale Berührung ist ein Zeichen von Schmerzverarbeitung.
Ist also der Schmerz verarbeitet, dann haben wir Klarheit, wie wir in Zukunft mit so einer Schmerz erzeugenden Situation umgehen wollen. Wir haben dazugelernt und sind dabei offen und klar geblieben. Wir haben aus der Schmerz erzeugenden Situation profitiert. Dies nennt der amerikanische Wissenschaftler Nassim Nicholas Taleb auch "Antifragilität".
Wenn wir die aktuelle Psychotherapie beobachten, dann können wir dort entdecken, dass genau das versucht wird. Menschen werden dazu ermutigt, ihre Gefühle wieder zuzulassen. Sie erhalten einen Rahmen, nachträglich die Schmerz erzeugenden Situationen aus der Vergangenheit zu verarbeiten (das ist immer möglich - jedes Schmerzerlebnis, egal wann es passiert ist, kann nachträglich emotional verarbeitet werden, so dass sich daraus anschließend das Friedensgefühl entfalten kann). Oder es werden Sichtweisen angeboten, mit denen man anders und friedvoller auf die Schmerz erzeugenden Situationen zurückschauen kann.
Ein Verarbeitungsprozess muss nicht immer mit Tränen einhergehen. Er kann auch darin bestehen, dass man einfach seine gegenwärtige Sichtweise auf das vergangene Schmerzerlebnis ändert und eine andere innere Haltung dazu einnimmt. Welche innere Haltung die befriedigende ist und zu innerem Frieden führt, muss jeder für sich selbst erforschen. Hierzu könnte man verschiedene positive Rollen ausprobieren, wie ich es am 15.2. beschrieben habe.
Oder vielleicht hilft es auch, während der Erinnerung an die Schmerz erzeugende Situation sich verstärkt wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren, sich in die Gegenwart einzufühlen, eine "resonierende Empfindung" zu der Gegenwart zuzulassen, wie ich es am 31.1.2015 beschrieben habe.
Doch wenn es nicht gelingen will, die innere Haltung zu ändern, weil sich ein Abwehr- oder Angst- oder Hassgefühl immer wieder dazwischen schiebt und die Angst offensichtlich stärker ist als jegliche Bemühung, dann könnte es an zwei Dingen liegen:
1. Es gibt noch eine tiefer liegende Abwehr, die noch erkannt und verstanden werden möchte. Sie wirkt noch unbewusst. Hier kann man zur genaueren Erforschung das NeuroSonanz-Modell Acht innere Rahmen einsetzen.
2. Es wollen Tränen geweint werden und man müsste nach der Schmerz erlösenden Situation suchen (entweder in sich selbst oder außerhalb von sich selbst), die die Tränen in Fluss bringen kann.
Eine Teilnehmerin hat mir einmal erzählt, dass sie sich in einen Italiener verliebt hat. Und er sich in sie. Die beiden hatten keine Sprache, mit der sie sich verständigen konnten. Er sprach kein Deutsch, sie kein Italienisch - und sie kannten auch keine gemeinsame Fremdsprache (wie z. B. Englisch). Also galt nur die Zeichen- und Körpersprache. Diese Zeit war für beide wundervoll und leidenschaftlich.
Als sie aber allmählich gegenseitig ihre Sprachen lernten und miteinander zu kommunizieren begannen, da begannen auch die Missverständnisse und Schuldzuweisungen. Nun war es nicht mehr so wundervoll ...
Meine These ist, dass wir Menschen durch unsere Sprache dazu verleitet werden, andere Menschen für unsere Schmerz erzeugenden Situationen verantwortlich zu machen, ihnen also eine Schuld zuzuweisen.
Dabei projizieren wir unseren Wunsch nach einer Schmerz erlösende Situation nach außen und warten darauf, dass der andere nach seiner schmerzlichen Handlung durch Einsicht und Verständnis uns anschließend die Schmerz erlösende Situation bietet (und z. B. sagt, dass es ihm leid tut und es nicht mehr vorkommen wird, weil er jetzt daraus gelernt hat). Manchmal (selten) klappt das auch. Aber wenn der andere keine Einsicht hat, dann wollen wir ihn bekämpfen - im Extremfall sogar komplett auslöschen, wie es uns in Filmen immer wieder vorgespielt wird. Der böse Feind muss eliminiert werden.
Wir erlösen unseren Schmerz nicht mehr selbst (wie es die Kinder noch spontan tun).
Solange wir eine Schuld für unseren Schmerz im Außen sehen, warten wir auch auf eine Änderung im Außen - und nicht mehr im Inneren.
Ich bin davon überzeugt, dass die Verlockung der Sprache (= Möglichkeit der Schuldzuweisung nach außen) der Grund dafür ist, dass die Menschheit über viele Jahrhunderte und Jahrtausende sich gegenseitig bekämpft und gezielt Krieg gegeneinander führt - und dabei vergessen hat, dass der Mensch die natürliche Fähigkeit besitzt, erlebte Schmerzen komplett zu verarbeiten und dadurch zu einer größeren Klarheit und Kraft zu gelangen, als wenn man in der Abwehr und dem Kampf und dem Ärger stecken bleibt.
Sobald wir die Schuldzuweisung vom Schmerzerlebnis loskoppeln, sie streichen und stattdessen "Vergebung" leben, können wir sehr oft erfahren, dass bei so einem Happy End auch die Tränen zu fließen beginnen - und dadurch der Schmerzverarbeitungsprozess (die Schmerz erlösende Situation) wieder in Gang kommt. Wir werden "weich", offen, liebevoll und letztendlich friedvoll. Aus dieser Haltung heraus können wir anderen verletzten Menschen eine "Schmerz erlösende Situation" anbieten.
Ob die anderen Menschen diese aber für sich nutzen, um ihren Schmerz zu verarbeiten, oder ob sie etwas anderes brauchen oder lieber doch die Verantwortung für die Lösung ihres Schmerzes an ihr Umfeld abgeben und lieber gegen das Umfeld kämpfen, das können wir nicht beeinflussen. Wir können nur so eine Situation anbieten.
Seinen inneren unerlösten Schmerz erlösen muss jeder Mensch für sich allein.
So, wie wir nur Restaurants anbieten und sie so attraktiv wie möglich gestalten können - aber hingehen und essen müssen die Menschen selbst.
Alles das heißt aber nicht, dass man sich nach einer Schmerzverarbeitung wieder für die Schmerz erzeugende Situation öffnen muss. Es bedeutet, dass man in Zukunft mit so einer Schmerz erzeugenden Situation mit Klarheit und Offenheit und Freundlichkeit umgehen und sich ohne emotionale Abwehr davor schützen kann, wenn man es möchte.
Heute Abend beginnt die erste Sendung in Sat 1 - die 15 Newtopianer ziehen ein und stellen sich ein Jahr lang der Öffentlichkeit. Im Moment plane ich, einige Sendungen anzuschauen und vielleicht auf dieser Website zu kommentieren, das weiß ich aber noch nicht. Dazu muss ich ersteinmal die Sendung erleben und beobachten, wie mich daraufhin mein Gefühl führt. Ich bin da noch ein wenig im Zweifel ...
Wenn ich tatsächlich beginne, Kommentare zu dieser Sendung aufzuschreiben, sind diese HIER unter dem Link NEWTOPIA nachlesbar.
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